Protest in München seit 1945
 
Rede zur Eröffnung der Protestreihe, Ausstellung im Stadtmuseum Branko Senjor und der Veröffentlichung des Buches "Protest in München seit 1945"

7. April 2011, Stadtmuseum, Großer Saal,
19.30 Uhr


(weibliche Form mitgedacht)

Liebe und weniger liebe WutbürgerInnen, Gutmenschen und Weltverbesserer,

anstrengende Radikalinskis und liebe Friedensfreunde,

liebe Menschenkettenteilnehmer, Blockierer und engagierte Barrikadenbauer

liebe Erzürnte, Empörte, Erregte und von der Politik Ernüchterte,

liebe Besserwisser, Nervensägen und Aktionisten,

liebe Internetaktivisten und Ihr, die Ihr Flugblätter noch immer mit der Schreibmaschine schreibt,

liebe Twitter-, facebook-, lokalisten-, youtube- und Echtzeitvernetzte ,

liebe Berufsdemonstranten und Gelegenheitsrevolutionäre,

liebe Nerds, liebe Verrückte,

liebe nackt gegen Pelz Protestierende und weniger liebe vollvermummt gegen das Kapital revoltierende,

liebe 1. Mai-Demonstranten und liebe Ganzjahresprotestler,

liebe BürgerInnen, liebes Proletariat, liebe Entrechtete und wütende Verdammte dieser Stadt, liebe protestierende Protestanten und protestierende Katholiken und gegen die kirchliche Übermacht Protestierende,

mit anderen Worten: Liebe MünchnerInnen und Münchner,

heute habe ich vom Oberbürgermeister die OB – Vertretung bekommen. Es ist ja delikat, dass ich im Namen des Oberbürgermeisters als Fraktionsvorsitzender der Grünen-rl eine von mir initiierte Reihe über Protest eröffne. Über Protest - der ja den OB genauso wie mich treffen kann und trifft. Deshalb erstmal meine Bitte: Halten sie es nach meinen Ausführungen bitte wie gesittete Bürger: bewahren Sie Ruhe. Bei allem was über Adressaten von Protest gleich gesagt wird: Anwesende bitte ausgenommen.

Zunächst einige Gründe warum die Protestgeschichte aufgearbeitet werden musste und muss:

1. Protest ist Geschichte von unten. Er zeigt: Geschichte – auch Stadtgeschichte – wird eben nicht nur vom Stadtrat und den parlamentarischen Gremien geschrieben, sondern oft genug von den BürgerInnen dieser Stadt selbst.

2. Protest ist Emanzipation. Die Protestgeschichte seit 1945 ist auch die Emanzipationsgeschichte der MünchnerInnen nach 1945. Nach den vielleicht noch zaghaften ersten Demonstrationen nach 12 Jahren Terror steigt das Selbstbewusstsein in den 50iger Jahren bereits immens. Die Bewegung gegen die Wiederbewaffnung ist groß und orientiert sich stark an der Gewerkschaft die in München nach dem Krieg ganz überraschend links und radikal war. In den 60igern beginnt eine Emanzipation auch von den großen Massenorganisationen weg. Es beginnt etwas von unten zu wachsen. Die 60iger schreiben sich auch die Emanzipation des Individuums auf ihre Fahne. Das wollten die K-Gruppen der 70iger zwar nochmal verhindern - aber es war – dem emanzipatorischen Virus sei Dank - zu spät. Die Emanzipation der Individuen bringt auch die Emanzipation der Themen von ideologischen Zwängen. 10 – 15 Jahre nach der Emanzipationsrevolte 68 bringen die Menschen alle Themen auf die Straße: Bürgerinitiativen von unten bilden sich - die Zivilgesellschaft entsteht.

3. Protest kann tatsächlich alles verändern. Vor allem alles angeblich Unabänderliche. (oder wie es aktuell heißt: alles Alternativlose). Protest verändert in den letzten Monaten vieles so schnell, dass man mit dem Redenschreiben gar nicht mehr nachkommt. Stuttgart 21 - oben bleiben, Atomkraftwerke abschalten - die arabischen Staaten. Protest ist ansteckend, erfolgreicher noch viel mehr.

4. Protest ruft Repression auf den Plan. Protest ist Teil der Demokratie, aber wenn es den Regierenden zu viel wird, zeigt die Protestgeschichte wie Repression gegen Protest funktioniert: Da wird überwacht, bespitzelt, verleumdet, festgenommen, eingesperrt, niedergeknüppelt, angeklagt und verurteilt. Wenn die BürgerInnen nicht so wollen wie sie sollen, rüstet die Staatsmacht auf. Pfingsten 1986, wenige Wochen nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl fand an der Baustelle der WAA – Wackersdorf eine der größten Proteste gegen diese Wiederaufarbeitungsanlage statt. Die Polizei setzte alles ein was sie an Mitteln zur Aufstandsbekämpfung hatte – zum Schluss wurden CS-Granaten aus Hubschraubern auf die Demonstranten geworfen. Und wenige Wochen später wurde der Etat für „überörtliche Polizeieinsätze“ in Bayern von 2,5 Mio DM auf 50, 7 Mio DM erhöht. Nicht der Atomkreislauf wurde stillgelegt sondern die Bürgerrechte. An dieser Stelle sei gesagt: Das Lesen alter Protestgeschichten kann hoch aktuell sein: Hier ist es wirklich möglich aus der Geschichte zu lernen und aktuelle Aussagen ganz frischer AtomkraftgegnerInnen richtig einzuordnen.

5. Protest stellt immer auch die Frage: Wem gehört der öffentliche Raum? Seitdem es Regierungen gibt wollen sie den öffentlichen Raum beherrschen, kontrollieren und regulieren. Protestgeschichte ist die Aneignungsgeschichte des öffentlichen Raumes durch die BürgerInnen. Auch in Zeiten von Internet, Twitter und elektronischen Protestnoten: Nichts bringt die Regierenden so sehr ins Wanken wie ein dauerhafter massenhafter Protest im öffentlichen Raum. Das ist ein seltsam Ding: Könnte doch jeder Regierende sagen: Ach, die gehen schon wieder nach Hause. Aber erstens tun die DemonstrantInnen das nicht unbedingt, siehe Tahrir Platz, und zum anderen zeigt der massenhafte Protest immer: Ist die Staatskontrolle über den öffentlichen Raum verloren wankt die Macht.

6. Protest gibt den Menschen etwas, was es in dieser Gesellschaft sonst so nicht mehr oft gibt: Das Gefühl der Solidarität. Das ist mehr als: man war gemeinsam auf der Straße. Es ist etwas eigenes: Das Gefühl gemeinsam etwas tun zu können. Gemeinsam Stärke im politischen Diskurs zu erreichen. Hier entsteht der wirkliche Kitt der Zivilgesellschaft.

Protest hat in München Straßenbauten und Baumfällungen verhindert. Protest hat Räume erkämpft wie die Seidl Villa oder Mietverträge für besetzte Häuser, Protest hat Grünflächen geschützt und Biotope erkämpft, Protest ließ zukünftige Hochhäuser in München auf 99 Meter schrumpfen, Protest hat Neonazi-Aufmärsche verhindert, Protest hat Kindergärten erkämpft und die Frauenemanzipation vorangetrieben und eine selbstbewusste Schwulen- und Lesbenszene etabliert. Die Geschichte Münchens ist ohne Protest nicht nur unvollständig - sie ist falsch.

Protest nach 1945. Sobald die MünchnerInnen wieder die Möglichkeit hatten zu demonstrieren haben sie es getan. Gegen die schleichende Reinwaschung der NS-Verbrecher und die Wiederbewaffnung in den 50iger Jahren. Mit Kundgebungen zum 1. Mai mit mehr als 100.000 Menschen. Die Schwabinger Krawalle in den 60ern gefolgt von den Ostermärschen. Die Menschen waren 1968 hier ebenfalls massenhaft auf der Straße. Zwei Menschen starben aus nie geklärten Umständen bei der Verhinderung der Auslieferung der Bild-Zeitung. 1972 kam es zur „Schlacht am Karlstor“ als sich einige das Demonstrationsverbot, das in der Fußgängerzone gelten sollte, nicht gefallen lassen wollten. Die 80iger brachten Nachrüstung, Gelöbnisse, Wackersdorf. Die 90iger Demonstrationen gegen die immer offener rassistisch werdende Politik gegen Flüchtlinge. 40.000 bei der Demo des Bündnisses gegen Rassismus, 400000 bei der Lichterkette. Der „Münchner Kessel“ 1992, als die Polizei Demonstranten über Stunden festhielt und malträtierte, hat weltweite Beachtung gefunden. 10.000 hielten am 1. 3. 1997 den Marienplatz besetzt um mehrere tausend Neonazis daran zu hindern dort gegen die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ zu demonstrieren. Die Nullerjahre brachten 2002 das stadtweite Verbot gegen die Sicherheitskonferenz zu demonstrieren – und die massenhafte Ignorierung dieses Verbotes.

Und dennoch: Schauen wir die offizielle Stadtgeschichtsschreibung an, dann könnte man denken: Protest? Hier? Nach 1945? Bekanntlich gab und gibt es in dieser Stadt doch nur wenige gute und echt münchner Gründe zum Protest. Der einzig akzeptierte Protestgrund scheint in der offiziellen Stadtgeschichte – wenn wir jetzt mal von Lola Montez absehen - jedoch immer nur die Erhöhung des Bierpreises gewesen zu sein. Hier könnte sich der echte Münchner wenn es denn gar nicht anders geht notfalls auch eine Revolution vorstellen. Eventuell erinnern sich die MünchnerInnen noch an einen anderen Protest, der aber natürlich auch mit dem Erregungsstoff Nr. 1 dieser Stadt zusammenhängt: Dem Bier: Versuche vermutlich landfremder Zugereister, als betroffene Anwohner die Biergärten früher schließen zu lassen, führten zur sog. Biergartenrevolution. Diese endete bekanntlich mit dem Sieg der Biergartenrevolutionäre und dem gemeinsamen friedlichen und zufriedenen Zurückkehren in die Biergärten. Es geht doch nix über eine Revolution die alles beim Alten lässt. Ein weiterer Protest aus dem kollektiven Gedächtnis: Der Kampf um die Kruzifixe als diese aus den Klassenzimmern entfernt werden sollten. Kruzifix, scho wieder a Revolution. Ergebnis: die Kruzifixe blieben. Was schert uns das Bundesverfassungsgericht, das liegt ja noch nicht mal in Bayern. Wieder ein Sieg des „mir san mir“ und wieder eine Veränderung abgewehrt.

Sollte typisch münchnerisch sein, dass sich das kollektive Gedächtnis besonders gerne daran erinnert wenn Veränderungen erfolgreich abgewehrt wurden? Sollte typisch münchnerisch sein, vor allem ein traditionelles Stadtbild, ein traditionelles Stadtgefühl zu verteidigen?

München ist eine Proteststadt und es gibt gute Gründe für den Protest: Aber warum wird er verdrängt wie eine schlechte Angewohnheit die doch jeder sieht? Der Versuch einer Antwort: München mag zwar Millionenstadt sein, Großstadt sein, aber es ist immer stolz darauf, dass die Verwerfungen und Brüche der Urbanität an München angeblich vorbeigehen. Das ist in überraschend vielen Punkten auch gelungen. Aber es ist in vielen Fällen auch ein vermarktbares Selbstbildnis. Vielleicht auch sogar ein selbsttäuschendes Selbstbildnis. Autosuggestion Bavariae.

Die Selbstinszenierung funktioniert nur weil aus dem kollektiven Gedächtnis alles störende gestrichen wurde: Militante Demonstrationen, linke DemonstrantInnen, Flugblattkanonen gegen den Papst beim Eucharistischen Weltkongreß 1960, getötete Demonstranten – all das passt nicht in dieses Selbstbildnis. Aber gläubige Münchner die das Kruzifix selbstgeißelnd gegen die satanischen Verse aus Karlsruhe verteidigen und Tracht tragende erzürnte Biergartenbesucher für die der Abend mit dem letzten Bier um 21.30 gelaufen sein soll - das passt ins Bild und wird für ewig überhöht.

Diese Stadt möchte so gerne die Fortsetzung der Residenzstadt mit andern Mitteln sein und verdrängt so gerne, dass hier die Revolution das Königshaus vertrieben und die Residenz besetzt hat. Lang lebe König Ludwig aber wie hieß gleich der revolutionäre Ministerpräsident 1918? Diese Stadt mag am liebsten Protest, der nichts verändert - und blendet die Rolle der Veränderer aus.

Und deswegen auch: Die Analyse des Protests ändert vielleicht ein bisschen das Selbstbild und die Selbstwahrnehmung dieser Stadt. Sie setzt – das Engagement vieler MünchnerInnen über viele Jahrzehnte in ihr Recht.

Besonders bedanken möchte ich mich bei: Günther Gerstenberg, den ich kennengelernt habe als er mit der Pistole in der Hand vor dem Bayerischen Innenministerium die Revolution forderte und festgenommen wurde (es war ein Theaterstück zum 70. Jahrestag der Revolution 1918) und der bis an die Grenzen seiner Belastungsfähigkeit ging um dem Protest auch wirklich eine Geschichte zu geben. Dank an Zara Pfeiffer die das Buch verantworten muss und Dank an alle, die zu den in Protestkreisen üblichen selbstausbeuterischen Konditionen mitgeschrieben haben, Dank an Naica-Loebel und Ruth Oppl die das Protestgeschehen in eine Veranstaltungsreihe gebracht haben.

Und Dank an das Kulturreferat – an den Kulturreferenten der in den letzten Monaten sicher öfters gedacht hat: Protest ist, wenn man’s trotzdem macht – trotz aller Bedenken - und besonders an Frau Dr. Baumann, die den Nerv haben musste, alle die Chaoten auf die politische Bühne zu lassen, die bisher dort nichts zu suchen hatten.

Und natürlich Dank an die MünchnerInnen – denn hier stimmt es wirklich: Ohne Sie wäre das alles nicht geschrieben worden.

Siegfried Benker | siegfried.benker@muenchen.de